Erzählkunst hat einen neuen Namen. Unter dem Etikett Storytelling wird sie als Schweizermesser der Branche gefeiert, als ungewöhnlich scharf und vielseitig – als Kommunikatioswerkzeug für alle Fälle. Einer hat damit schon in den Sechzigerjahren gearbeitet: Howard Luck Gossage, ein Meister darin, Unternehmensbotschaften Farbe zu verleihen.

Der Held dieser Geschichte war nicht dafür bekannt, schnell auf den Punkt zu kommen. Dabei war Howard Luck Gossage Werber, einer dieser Menschen, die einem in 20, 30 Sekunden im Grunde alles verkaufen können, sei es ein Waschmittel, das weißer wäscht als Weiß, oder ein in Würfelform gepresstes Gemisch aus Salz, Gemüseextrakten und Pflanzenöl, das Wasser zwar nicht in Wein, aber immerhin in Brühe verwandelt. Doch wie gesagt: Instant war nicht Gossages Ding. Was er dem Publikum kredenzte, war schon von der Idee her frisch. Und bei den Zutaten setzte er nur auf das Beste, das der Feinkostladen der Rhetorik und Dramaturgie zu bieten hat.

Abgehauene Hand oder lieber Blut im Schuh?
Rückblende. Bevor es weitergeht mit Howard Luck Gossage, dem Werber, der vielmehr Geschichtenerzähler als Slogan-Schreiber war, eine kleine Zeitreise. Sie führt zurück – modisch Interessierte werden es gleich bemerken – in die frühen Siebzigerjahre: In einem hellblauen Frotteeschlafanzug liege ich im Bett. Neben mir, in rotem Frottee, meine große Schwester. Auf ihren angewinkelten Beinen hält sie ein altes, abgegriffenes Buch. Wie jeden Abend liest sie mir daraus vor. Es ist Wilhelm Hauffs »Märchen-Almanach auf das Jahr 1827 für Söhne und Töchter gebildeter Stände«. Wer hat sich bloß diesen Titel ausgedacht? Er stimmt nicht einmal. Die Märchen darin sind nämlich nicht nur etwas für gebildete Stände, sondern auch für Arbeiterkinder wie mich. Bis heute liebe ich zum Beispiel »Die Geschichte von dem Gespensterschiff« oder »Die Geschichte von der abgehauenen Hand«. Schon die Überschriften versprechen: Das ist Stoff für echte Kerle. Und da sind wir auch schon beim zweiten Irrtum des Buchtitels: Für Töchter ist das nichts. Die mögen Grimms Mäd… – Entschuldigung – Märchen einfach lieber. Zumindest bei meiner Schwester ist das so. Da geht es um Schuhe (»Der gestiefelte Kater «), Feen, Prinzessinnen (»Dornröschen«) und schöne Kleider (»Aschenputtel«).

Ich trage abgewetzte Jeans, Camel-Boots mit Kreppsohlen und eine verschlissene Lederjacke meines Großvaters. Willkommen in den Achtzigern, bei der zweiten Station unserer Zeitreise. Geschichten sind für mich wie schon als Kleiner das Größte. Nur meine Lieblingsfiguren haben sich geändert. Statt über den kleinen Muck bei Hauff lese ich öfter im »Spiegel« über den ebenfalls nicht hoch gewachsenen Franz-Josef Strauß. Ich kaufe Bücher wie »Die Watergate-Affäre« von Carl Bernstein und Bob Woodward oder »Der Aufmacher – Der Mann, der bei Bild« Hans Esser war« von Günter Wallraff. Ich demonstriere gegen Atomkraft, baue Krötenzäune, will aber mehr bewegen als quakende Tiere von einer Straßenseite auf die andere. Ich studiere Journalistik, will selbst zum »Spiegel«.

In dem beigefarbenen Designeranzug, den ich mir von meinem ersten Gehalt gekauft habe, und einem dunkelbraunen Seidenhemd mit extrabreitem Kragen sitze ich wie jeden Mittag mit Kollegen beim Italiener. Nur bin ich statt beim »Spiegel« bei der »Bunten« gelandet. Es ist die letzte Station der Zeitreise, gleichzeitig erinnert sie ein wenig an die erste. Denn zwischen 13 und 14 Uhr ist Märchenstunde. Mal gibt es Pasta, mal Porchetta, immer Weißwein und die abenteuerlichsten Geschichten. Axel Thorer, stellvertretender Chefredakteur und nach eigenen Angaben nebenberuflich Wildhüter in Tansania, erklärt, wie man linkshändige von rechtshändigen Löwen unterscheidet und wie ihm dieses Wissen schon einmal das Leben rettete. Raimund le Viseur, Autor bei der »Bunten« und zuvor Gründungschefredakteur des deutschen »Playboy«, berichtet von wilden Partys bei Hugh Hefner in Chicago, von nicht minder ausschweifenden Festen in München-Schwabing und darüber, warum er jetzt malt und auf jedes seiner Bilder mindestens einen kleinen Penis pinselt. Und dann ist da noch Paul Sahner, der Star-Interviewer des Heftes. Er erzählt, wie ihn einst Helmut Berger verführen wollte und wie er Michael Jackson bei einer Rede für dessen Besuch bei Nelson Mandela half. »Als Dank hat Michael mir als erstem Journalisten überhaupt seine Kinder gezeigt. Ihr glaubt es nicht – sie waren schneeweiß.«

Rezepte gegen Geschichten so blass wie Jacksons Kinder 
Aber was haben nun schneeweiße Kinder, Wilhelm Hauff oder Günter Wallraff mit der Geschichte von Howard Luck Gossage zu tun? Ich meine außer der Tatsache, dass sie mir halfen, genau wie er, nicht gleich zur Sache zu kommen und so vielleicht ein wenig Spannung aufzubauen. Die Antwort ist recht simpel: Sie alle stehen sinnbildlich für die Kraft von Geschichten, an die Gossage glaubte, wie kein anderer Werber vor ihm. Und sie stehen für die Voraussetzungen, um die er wusste, ohne die selbst die beste Story ihre Kraft nicht entfaltet. Die wichtigste Voraussetzung: ein genaues Bild von den Menschen haben, denen man sie erzählt. Sind sie überwiegend männlich oder weiblich? Söhne und Töchter gleichermaßen zu erreichen funktioniert selbst im Märchen nicht so recht. Wie alt sind sie? Wie ticken sie? Ein 20-jähriger Anti-Atomkraft-Demonstrant lässt sich kaum mit denselben Argumenten erreichen und begeistern wie ein 30-jähriger, der allenfalls auf die Straße geht, um zur Modeboutique oder zum Italiener zu kommen. Denn nicht nur das Alter von Menschen ändert sich stetig, sondern auch deren Einstellungen. Oder wie es George Bernard Shaw formulierte: »Wer mit zwanzig kein Revolutionär war, hat kein Herz. Wer mit dreißig noch einer ist, hat keinen Verstand.« Dumm auch, wenn einem beim Erzählen nicht die ein oder andere derart gelungene Formulierung einfällt. Gossage war davon überzeugt: Gutes Storytelling braucht Witz und Intelligenz, dazu Charme und mindestens noch eine Spezialzutat: Ohne einen Schuss Abenteuer, Exotik, Gefühl oder Sensation bleiben Geschichten nämlich blass wie Michael Jacksons Kinder.

Besonders farblos fand Howard Luck Gossage die Werbung seiner Zeit. Alles belangloses Gewäsch, das auch nicht besser würde, wenn man es dem Publikum als Anzeige oder Sport Dutzend Male hintereinander zumute. »Wer etwas Interessantes sagt, muss sich nicht wiederholen«, lautete die Devise von Gossage. Wobei sich interessant und lang aus seiner Sicht nie widersprachen. Die meisten seiner Anzeigen füllten ganze Zeitungsseiten mit Text. Dabei waren viele sogar Teil einer Fortsetzungsgeschichte, einer Serie mit mehreren Folgen. Dass so viel geballte Werbung das Publikum langweilen könnte, fürchtete er nie. Es sei schon richtig: »Die Leute lesen keine Anzeigen. Sie lesen, was sie interessiert – und manchmal ist es eine Anzeige.«
»Manchmal« ist im Fall von Gossage Understatement. Er wusste genau, wie gut seine Werbung ankam. Gossage pflegte nämlich an fast jede Anzeige einen Coupon zu hängen, mit dem er Fragen stellte, Ideen suchte oder Preise auslobte. Die Zahl der Einsendungen sprach für sich. In den 1960er-Jahren gingen neun der zehn erfolgreichsten Kampagnenrückläufe auf sein Konto. Für das nicht gerade auflagenstarke Wissenschaftsmagazin »Scientific American« zum Beispiel schrieb er einen Papierfliegerwettbewerb aus, für den rund 12.000 Bauanleitungen aus aller Welt eingereicht wurden. Oder 1967, als die US-Regierung den Grand Canyon zum Stausee verwandeln wollte: Damals machte Gossage für die Naturschutzorganisation Sierra Club Lobby dagegen und entwarf eine Anzeige mit dem Titel »Sollten wir auch die Sixtinische Kapelle unter Wasser setzen, damit die Touristen näher an die Deckengemälde kommen?«. Zusammen mit zwei weiteren brachte sie mit Coupons weit mehr als 100.000 Dollar an Spenden, eine Rekordzahl von Protestbriefen ans Weiße Haus und schließlich das Ende des Projekts.

So bringt der Klapperstroch ein Mädchen 

Die Werbung von Howard Luck Gossage war nicht zuletzt deswegen so effektiv, weil sie besonders kreativ war. Das musste sie vor allem dann sein, wenn es galt, für ein Produkt zu trommeln, das es an jeder Straßenecke in derselben, nicht zu unterscheiden Qualität zu einem mehr oder weniger einheitlichen Preis gibt. Die Rede ist von Benzin, wie es jede x-beliebigen Tankstellenkette verkauft. Wie werben? Mit einem Formel-1-Star als Testimonial? Mit halbnackten Frauen, nur mit engen Tanktops bekleidet? Gossage tat es schonungslos offen und ehrlich und schrieb: »Wenn Sie eine Straße entlangfahren, und Sie sehen eine Tankstelle von Fina, und sie ist auf Ihrer Straßenseite, sodass Sie keine Kehrtwende machen müssen, und es warten nicht schon sechs Autos, und Sie brauchen Benzin oder irgendetwas anderes (wie Öl. Oder 1503 andere Dinge, die Ihr Auto möglicherweise braucht), dann kommen Sie rein. Wir wissen, dass dies kein so einprägsamer Slogan ist wie andere, aber es ist realistisch, und Fina erwartet keineswegs von Ihnen, etwas Unzumutbares oder Unbequemes zu tun.« Und natürlich gab es auch einen Coupon. Der Text dazu lautete: »Falls Sie währenddessen eine Ventilkappe an Ihrem Rad vermissen (und das tun Sie vielleicht), und Sie möchten eventuell eine pinkfarbene, dann wären wir glücklich, Ihnen ein kostenloses und portofreies Exemplar zuzusenden. Sie brauchen nur den Coupon auszufüllen. Falls Sie auch einen Fina-Kreditkartenantrag möchten, brauchen Sie nur ein Kreuzchen in das rechte Kästchen zu machen.«

Eine rosafarbene Ventilkappe? Das war längst nicht alles. In Folgeanzeigen stellte Gossage samt ausführlicher Berechnungen den Fünfjahresplan vor, wie Fina die USA mit einem unterirdischen Rohrleitungsnetz erschließen will, um an jeder Fina-Tankstelle des Landes rosa Luft bereitstellen zu können – das laut Gossages Anzeigen letzte wirklich überzeugende Verkaufsargument, nachdem alle erdenklichen Zusätze für Öl und Benzin bereits erfunden worden seien und auch saubere Toiletten seit etwa 20 Jahren zum Standard gehörten. Wer nicht fünf Jahre warten wollte, bis rosa Luft an seiner Tankstelle verfügbar sein würde, konnte – genau – einen Coupon ausfüllen und schon mal kostenlos ein kleine Probe in Form eines rosafarbenen aufblasbaren Luftballons bestellen. Außerdem forderte Gossage zu einem Wettbewerb auf, bei dem es 15 Yards rosa Asphalt zu gewinnen gab für die beste Begründung, wozu man ihn brauchen könnte. Gewinnerin war übrigens eine Mutter von fünf Söhnen, die dem Klapperstorch damit einen Wink geben wollte, endlich mal ein Mädchen zu bringen. »Der Vorteil einer absurden Idee ist der«, erklärte Gossage später in einem Vortrag einmal, »geht man einfach nur logisch vor, kommen die Einfälle ganz von selbst.«
Rund 200 Anzeigen in diesem Stil des Storytellings hinterließ Howard Luck Gossage, nachdem er 1969 mit gerade einmal 51 Jahren an Leukämie starb. Langsam wird sein Erbe angetreten. Das Erzählen bunter Geschichten erobert die Unternehmenskommunikation. Aber warum sollte ein Unternehmen in epischer Länge auch unterhalten, statt wie bisher nur kurz zu informieren oder zum Kauf aufzurufen? Solche Storys über Firmen liest doch niemand. »Stimmt«, würde Gossage sagen. »Die Menschen lesen das, was sie interessiert – und manchmal sind es bunte Unternehmensgeschichten.«



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